Page 13 - Magazin Januar 2025
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          einer  adligen  Familie  an  ein  Kloster                 Aufgabe  genug.  Trotzdem  leistete  sie
          abgegeben  wurde.  Zwar  war  die  Fami-                  Erstaunliches  weit  über  diesen  Be-
          lie  Hildegards  sehr  religiös,  so  war  ei-            reich hinaus. Sie begab sich regelmä-
          ner  ihrer  Brüder  ein  Bischof,  und  eine              ßig  auf  Predigtreisen  und  sprach  vor
          Schwester nahm den Schleier. Trotzdem                     Kirchen  zu  dem  Volk.  Dabei  griff  sie
          verwundert es, dass Hildegard im zarten                   auch die Priester und Oberen der ka-
          Alter von acht Jahren zu einer Klausnerin                 tholischen Kirche an, verurteilte deren
          gegeben  wurde.  Viele  Klausner  wurden                  Hang  zur  Gottlosigkeit  und  kritisierte,
          damals lebend eingemauert und nur ein                     dass sie die Lehren des Christentums
          kleines Fenster für die Versorgung blieb                  deshalb  nicht  genügend  verbreiten
          offen. Bei der Klausnerin Jutta von Spon-                 würden. Offen prangerte sie auch die
          heim war dies etwas anders. Denn die                      Priesterschaft an, da sie kein Halt für
          Klause  war  in  der  Frauenabteilung  des                die  Kirche  wären.  Sie  beschuldigte
          Klosters untergebracht, und die Kammer                    sie, raffgierig zu sein und darüber ihre
          war mit einer Tür versehen, die sie selbst                Pflichten  zu  vergessen.  Auch  geriet
          zwar nie nutzte, aber ihren Schülerinnen                  Hildegard  immer  wieder  mit  Kaisern,
          offenstand.                                               Fürsten  und  Bischöfen  aneinander,
                                                                    doch dies geschah immer in der fes-
               leichwohl  war  es  ein  einsames                    ten Überzeugung, dem Wunsch Gottes
          GLeben,  das  die  kleine  Hildegard                      damit zu folgen. Sie versuchte, die aus
 mit hochgestellten  fortan  führte.  Ihre  Verwandte,  Jutta       den  Fugen  geratene  Welt  der  katholi-
 rer Epoche und nah  von Sponheim, lehrte Hildegard Latein          schen Kirche wieder zu schließen und
 Menschen kein Bl  und  Mathematik.  Langsam  erwuchs               setzte sich massiv für die Erneuerung
 Da sie von ihren Mi  aus  der  Klause  ein  eigenständiger         der Kirche im Glauben ein.
 und geschätzt wur  Konvent, und als Jutta von Sponheim
 ungewöhnliche Stell  starb,  wurde  Hildegard  von  den  übri-         ür ihre Überzeugungen trat die Äb-
 ward sehr unterstüt  gen Nonnen zu ihrer Magistra gewählt.         Ftissin  ihr  ganzes  81-jähriges-Leben
          Immer  mehr  ergab  sie  sich  ihrem                      ein. Dabei war sie so unglaublich viel-
 bgleich Hildeg  Schicksal,  das  sie  fortan  als  Wunsch          seitig  interessiert,  dass  ihre  Werke
 Deutschland s  Gottes ansah, jedoch nie gewollt hatte              über Naturkunde noch heute geschätzt
 deren Ländern als  und  ertrug  Schmerz  und  Not.  Ihr  be-       werden. Sie trug Behandlungsmöglich-
 wurde  der  Heilig  rühmtes Kloster auf dem Rupertsberg            keiten  für  Krankheiten  zusammen,  ka-
 nicht vollständig vo  baute sie, da sie in einer Vision diese      talogisierte die Flora und Fauna, kom-
 Kirche durchgeführt  Aufgabe von Gott erhielt. Trotz ihrer im-     ponierte Kirchenlieder und schrieb mit
 Prüfung durch den  mer wiederkehrenden Gebrechlichkei-             der Hilfe eines Mönches ihre Visionen
 vor 2012 nie offiziell  ten, wie zeitweiligen Lähmungen, ging      nieder. Hildegard nur auf ihre medizini-
 obgleich der römi  sie  sehr  viel  auf  Predigt-Reisen  und       schen  Lehren  zu  reduzieren,  wäre  ein
 der Hildegard von B  führte einen erstaunlichen Briefverkehr,      großer  Fehler.  Zwar  ist  die  Hildegard-
 als Heilige verzeich  von dem heute noch über 300 Briefe           medizin  gerade  wieder  sehr  aktuell,
 September als Ged  erhalten geblieben sind.                        doch  hat  die  beindruckende  Benedik-
                                                                    tinerin weit Größeres geleistet. Für Hil-
 Der erstaunliche  ie war für ihre Zeit nicht nur revo-             degard  war  der  Bezug  zu  Gott,  zum
 Hildegard v  Slutionär,  sondern  sie  ringt  auch                 Kosmos  und  zu  der  Natur  stets  wich-
          heute noch vielen Menschen unglaub-                       tig. Alles verknüpfte sie sinnvoll mitein-
 s mutet schon  lichen  Respekt  ab.  Die  Führung  des             ander und leistete so auf diese Weise
 dass ausgerech  Klosters war für die Äbtissin eigentlich           wahrhaft Erstaunliches
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