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          Und weil Gerichte zuvor die gesamte Anpassung für unwirk-  Zielen des Schuldnerschutzes und des Rechtsfriedens … und
          sam hielten, wenn sie Zweifel an der Limitierung hatten, stellt   wäre nicht nur für die Versicherer unzumutbar, sondern müsste
          der BGH fest, dass die Anpassung der Beiträge auch dann   zwangsläufig zulasten der Gesamtheit der Versicherten gehen.“
          wirksam bleibt, wenn die Limitierungsmaßnahme fehlerhaft
          erfolgt ist, sofern die Nachkalkulation selbst den gesetzlichen   Andere Gerichte folgen OLG Köln und lehnen Beweisbe-
          Anforderungen entspreche. Der Kläger erhält nur bei Nach-  schlüsse zu Gerichtsgutachten ab - So sagt ein Urteil des
          weis dann eine stärkere Limitierung. Der BGH hat das voran-  LG München I, wo zuletzt weit über tausend Klagen gegen Bei-
          gegangene Urteil des LG Berlin daher aufgehoben und zur   tragsanpassungen anhängig waren, warum, anders als bis-
          erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Dort ist nun auch die   lang irrtümlich gesehen, kein Gerichtsgutachten nur auf „un-
          Nachkalkulation der Prämie selbst zu prüfen. Damit geht es   substantiiertes Bestreiten“ erfolgt, im Endurteil vom 01.06.2023
          nun also vermehrt bei den Gerichten um die Beitragskalkula-  – Aktenzeichen 12 O 1228/23 in aller Deutlichkeit: „Vielfach
          tion selbst, ein hoch komplexes Thema, um das Gerichte oft   wird  aus  den  Urteilen  des  BGH  vom  16.06.2004  –  IV  ZR
          lieber einen Bogen gemacht hätten.                 117/02 und vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15 geschlossen, dass
                                                             die Darlegungs- und Beweislast bezüglich dieser Anspruchs-
          Beitragskalkulation: Klägerbehauptungen „ins Blaue hinein“   grundlagen in Prämienanpassungsverfahren beim Versiche-
          reichen nicht - Doch zuletzt zeigte sich dann, dass Gerichte es   rer läge. Im ersten Verfahren äußerte sich der BGH jedoch nur
          nicht mehr in Übereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen   zur  Darlegungs-  und Beweislast  im Rahmen der negativen
          für Gerichtsverfahren sehen, wenn Kläger nicht mal ansatzweise   Feststellungsklage. Das zweite Verfahren betraf einen Fall, in
          darlegen, warum die Kalkulation selbst fehlerhaft sein soll, und sich   dem der Versicherungsnehmer die Beiträge unter Vorbehalt
          auf Nichtwissen zurückziehen. Sie realisieren, dass sie den Bun-  geleistet hatte, sodass es deshalb bei der Darlegungs- und
          desgerichtshof (BGH) wohl bisher missverstanden haben. Wozu   Beweislast des Versicherers blieb. Vielfach wird eine Umkehr
          wohl auch die Notlage beigetragen hat, dass geeignete Gerichts-  der Darlegungs- und Beweislast in Prämienanpassung auch
          gutachter mittlerweile oft bis über das Ende des 3. Jahrzehnts   als gerechtfertigtes Korrelat zum einseitigen Prämienanpas-
          dieses Jahrtausends hinaus mit Aufträgen aus bereits gefassten   sungsrecht der Versicherung angesehen. Auch wird angeführt,
          Beweisbeschlüssen voll ausgelastet sind. Die Zahl der Verfah-  dass dem Versicherungsnehmer die notwendigen Informati-
          ren überschreitet inzwischen diejenigen aus dem Dieselskandal.  onen  nicht  vorlägen  und  er  ohne  Kenntnis  der  technischen
          Die jetzige Lösung lag eigentlich nahe - und sie kann der Kla-  Berechnungsgrundlagen nicht in der Lage sei, die aktuarielle
          geindustrie mit einer Lawine von Klagen gegen Beitragsan-  Rechtswidrigkeit der Beitragsanpassungen substantiiert zu
          passungen den Boden entziehen. Jedenfalls, wenn wie üblich   behaupten und gegebenenfalls zu beweisen … Die vorge-
          auch die angepassten aber ohne Vorbehalt gezahlten Beiträ-  brachten  Argumente rechtfertigen  jedoch keine  grundsätzli-
          ge des laufenden Jahres und der drei unverjährten Vorjahre  che Umkehr der üblichen Darlegungs- und Beweislastregeln.
          zurückverlangt werden, und nicht nur eine sogenannte nega-  Denn  entgegen  den  vorgebrachten  Argumenten  ist  der  Ver-
          tive Feststellungsklage auf fehlende volle Zahlungsverpflich-  sicherungsnehmer nicht rechtsschutzlos:
          tung ab Erhebung der Klage erfolgt. Was den Streitwert und   Zum einen ist der Versicherungsnehmer in der für ihn missli-
          damit die finanzielle Honorarbasis für Klagen gegen Beitrags-  chen Beweissituation nur deshalb, weil er die geforderten Bei-
          anpassungen stark beeinträchtigen muss.            träge (zum Teil jahrelang – hier zum Beispiel seit 12 Jahren
                                                             bis zur Klageerhebung) vorbehaltlos gezahlt hat. Zum anderen
          So sagt das OLG Köln im Beschluss vom 18.05.2022 – 20
          U 91/21 – sehr deutlich: - „Dass der Versicherer die Be-  wird von der Klagepartei in ihrer Situation auch kein unzumut-
          rechtigung einer Prämienerhöhung im Streitfall darlegen und   barer Sachvortrag verlangt. … Dies deckt sich mit der Recht-
          beweisen muss, gilt zwar dann, wenn er die erhöhte Prämie   sprechung zu § 138 Abs. 2 ZPO. Danach ist die Grenze der
          einfordert.  Anders  ist  es  jedoch,  wenn  der  Versicherungs-  zulässigen Erklärung mit Nichtwissen mit der Folge, dass der
          nehmer,  wie  hier,  Rückforderungsansprüche  geltend  macht   Gegenseite die nach der Rechtsprechung auf Grundlage des
          – gleichgültig, ob gestützt auf Bereicherungsrecht oder auf   § 138 Abs. 2 ZPO entwickelte sog. „sekundäre Darlegungslast“
          Schadensersatzrecht; in beiden Fällen liegen Darlegungs–   auferlegt werden darf, erreicht, wenn die Klagepartei Behaup-
          und Beweislast beim Versicherungsnehmer.           tungen aufstellt, die sich lediglich auf Vermutungen stützen,
                                                             aus der Luft gegriffen sind und sich somit als Rechtsmiss-
          Wenn der Versicherer die Prämie einklagt, mag sich der Ver-  brauch darstellen BGH, Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20
          sicherungsnehmer hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der vom Ver-  … Was darunter zu verstehen ist, hat der BGH in dem ange-
          sicherer in einem Verfahren ermittelten Prämienhöhe, zu dem   gebenen Urteil vom 16.09.2021 dargelegt (a.a.O., Rn. 21 ff.). Die
          der Versicherungsnehmer keinen Zugang hatte, durch Bestrei-  Entscheidung erging zum sogenannten „Dieselskandal“. Der
          ten mit Nichtwissen verteidigen dürfen. Für die Schadensersatz-  BGH äußerte sich dazu, was der Käufer eines Dieselfahrzeugs
          klage kann ein Vortrag wie der des Klägers nicht ausreichen,   dafür vortragen muss, dass in seinem Fahrzeug tatsächlich
          auch nicht mit dem zutreffenden Hinweis versehen, dass sich   eine Steuerungseinheit verbaut ist, mit der Vorschriften zur Ab-
          die materielle Richtigkeit einer Prämienfestsetzung in aller Re-  gasregulierung umgangen werden. Es wird der Vortrag „tat-
          gel nur mithilfe eines Sachverständigengutachtens klären lässt.   sächlicher Anhaltspunkte“ verlangt (Rn. 23 ff.). Nur dann ist der
          Ohne konkreten Hinweis auf Fehler einen Sachverständigen mit   Prozessgegner  verpflichtet,  sich  zu  den  Behauptungen  der
          der Überprüfung streitiger Prämienanpassungen zu beauftragen,   Gegenseite überhaupt detailliert zu äußern …  Die Situation
          bedeutet Ausforschung. Rechtlich und in seinen praktischen Aus-  der Käufer eines Dieselfahrzeugs ist vergleichbar mit der Si-
          wirkungen, erschiene es dem Senat unvertretbar, wenn ein Ver-  tuation von Versicherungsnehmern, denen die Beiträge erhöht
          sicherungsnehmer mit der blanken Behauptung, der Auslösende   wurden und die sie nun zurückverlangen. In beiden Fällen hat
          Faktor habe den Schwellenwert nicht überschritten, alle Prämien-  der Anspruchsteller keinerlei Kenntnisse der Firmeninterna. In
          anpassungen der letzten zehn Jahre gerichtlich mittels aufwendi-  beiden Fällen kann der Anspruchsteller u.U. ohne Hinzuzie-
          ger Gutachten überprüfen lassen könnte. Das widerspräche den   hung von Sachverständigen keine abschließende Beurteilung
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